Vorarlberger Nachrichten: „Der Verstand und die Kraft der Weiber“ von Ulrike Längle
„Der Verstand und die Kraft der Weiber“ Carl Ernst von Gravenreuth, bayerischer Diplomat und Gegenspieler des „Krumbacher Weiberaufstandes“
KRUMBACH Die Napoleonischen Kriege waren eine Zeit größter Umwälzungen in Europa: Nach der für Österreich verlorenen Schlacht von Austerlitz erhielt das mit Frankreich verbündete Bayern 1806 Vorarlberg und Tirol. Die Bayern führten die allgemeine Wehrpflicht ein und verboten im Zuge der Reformpolitik des aufgeklärten Ministers
Montgelas alles, was ihnen wie Aberglauben vorkam, z. B. Wallfahrten und Wetterläuten. Aus diesen Gründen brach am 30. Juni 1807, vor fast genau 215 Jahren, der sogenannte „Krumbacher Weiberaufstand“ aus: Unter Führung der Bäuerin Christine Heidegger vertrieben aufgebrachte Frauen und Mädchen die bayerische Rekrutierungskommission; am 2. Juli zogen mehrere Hundert Frauen und Männer nach Bezau, um das Landgericht zu stürmen. Ihre Hoffnung, dass sich der ganze Bregenzerwald erheben würde, erfüllte sich nicht, die anderen Dörfer machten nur zum Teil oder gar nicht mit. Gelbe Villa an der Klause Gegenspieler war der erst Ende März neu ernannte Generalkommissär der Provinz Schwaben, Freiherr Carl Ernst von Gravenreuth (1771–1826), der 600 Soldaten in die aufrührerischen Dörfer Krumbach, Hittisau, Lingenau und Langenegg einmarschieren ließ und eine Untersuchungskommission einsetzte, die über hundert Verhöre führte. Trotz seines anfänglich harten Einschreitens setzte Gravenreuth durch, dass die Beschuldigten schließlich vom bayerischen König begnadigt wurden.
„Ob einige Weiber zum Rädern oder Hängen verurteilt werden, daran liegt im Staatsinteresse wenig“,
schrieb er an Max Joseph, viel wichtiger sei es, dass die Vorarlberger die neue Herrschaft akzeptierten. Dieses Verständnis für die Nöte der Bevölkerung wussten auch die Landstände zu schätzen, die bereits im Herbst 1807 an der Bregenzer Klause ein nicht mehr existierendes Denkmal für Gravenreuth errichten ließen, die Gloriette Gravenreuthsruh, mit einer Gedenktafel, die sich heute im vorarlberg museum befindet. Eine solche Ehre wurde keinem anderen Bayerischen Beamten in den neuerworbenen Provinzen zuteil, auch wenn der Hintergedanke mitgespielt haben mag, sich den Generalkommissär durch diese Ehrung geneigt zu machen. Noch heute erinnert jedoch die gelbe Villa im toskanischen Stil, ebenfalls an der Klause, an die Familie von Gravenreuth: Sie wurde von Carl Ernsts Sohn Maximilian (+1874) errichtet. Dessen Witwe Maria Anna Sophia, geb. Freiin von Giese, stiftete 1886 ein Glasfenster für die Kollegiumskapelle des Klosters Mehrerau in Bregenz, das das Einhornwappen der Gravenreuth und das Wappen der Giese zeigt. Die Linie Carl Ernsts starb mit Maximilian aus. Bislang zu wenig beachtet Wer war nun dieser Mann, für den das Wirken in Vorarlberg nur eine kurze Episode seines Lebens war?
Gravenreuth ist bisher nicht nur von der Vorarlberger, sondern auch von der bayerischen Geschichtsschreibung vernachlässigt worden. Das lag daran, dass er als Gegenspieler von Maximilian Graf Montgelas galt, der jahrelang die Funktionen des Finanz-, Außen- und Innenministers in seiner Person vereinigte und der heute als Architekt des modernen Bayern fast kultisch verehrt wird. Vor einiger Zeit hat nun Freiherr Marian von Gravenreuth eine Biografie über seinen bedeutenden, doch viel zu wenig beachteten Urururgroßonkel angeregt, mit der der Historiker und Experimentalarchäologe Marcus Junkelmann beauftragt wurde, Spezialist für die bayerische Geschichte der Napoleonischen Zeit und für Kriegsgeschichte und Verfasser von Biographien u. a. über Kaiser Augustus, König Gustav Adolf, Kurfürst Maximilian I. von Bayern, Montgelas oder Napoleon. Junkelmann hat ein über 700 Seiten starkes, exzellent geschriebenes und opulent bebildertes Werk vorgelegt, in das er auch umfangreiche Quellen aus dem Familienarchiv der Gravenreuth auf Schloss Affing bei Augsburg eingearbeitet hat; ganz besonders schön sind die zahlreichen Abbildungen aus dem reichen Familienerinnerungsschatz. Von der Herkunft aus einer fränkischen Adelsfamilie, der Geburt in Lothringen als Sohn eines früh verstorbenen Offiziers in französischen Diensten und einer französischen Mutter, der Flucht aus dem revolutionären Frankreich, der Aufnahme in den wittelsbachisch-zweibrückischen Hofdienst bis zu seiner Karriere als jüngster bayerischer Diplomat in Wien, Salzburg und schließlich im Hauptquartier von Napoleon schildert Junkelmann den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg eines aufgeklärten, ebenso begabten wie ehrgeizigen und tatkräftigen Mannes. Der Titel der Biographie „‘Sie allein können Bayern retten‘“ stammt aus einem Brief von Montgelas‘ Frau an Gravenreuth: Im entscheidenden Jahr 1805, als Bayern sich schließlich zum Bündnis mit Napoleon entschloss, als aber sowohl der König als auch Montgelas der Situation nervlich nicht gewachsen waren und sich in Krankheiten flüchteten, rettete Gravenreuth nicht nur durch sein entschlossenes Handeln die bayerische Armee vor dem Zugriff der Österreicher, es gelang ihm auch, Napoleon, der ihn besonders schätzte, bedeutende Gebietsgewinne für Bayern abzutrotzen. Diese Karriere nahm 1807 ein jähes Ende, als Gravenreuth vom diplomatischen Dienst abgezogen und in die Verwaltung versetzt wurde, zuerst nach Ulm, dann nach Eichstätt und schließlich nach Augsburg, wo er als erster Ehrenbürger der Stadt und in den Grafenstand erhoben sein Leben beendete. Gravenreuth hat in einem späten Mémoire Montgelas für diesen Karriereknick verantwortlich gemacht, Junkelmann kommt aber zu dem Schluss, dass seine unverblümte, geradezu respektlose Ausdrucksweise in seinen Schreiben an König Max Joseph viel eher dafür verantwortlich ist. Neu zu bewerten Faszinierend ist die Lektüre auch durch Junkelmanns Exkurse, etwa über die Rolle von Gravenreuths künftigem Schwiegervater, des Freiherrn Christian von Zweibrücken, und seines Bruders, im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder über die Schicksale von Carl Ernst Brüdern Casimir und Franz in Napoleons verhängnisvollem Russlandfeldzug. Der Autor bietet nicht nur ein plastisches Portrait Gravenreuths, es gelingt ihm auch, ein breites und facettenreiches Panorama der historischen Epoche zu vermitteln, in der sich das moderne Europa formierte. Gravenreuths Rolle in der bayerischen Geschichte wird nach dieser Biografie sicher neu zu bewerten sein. Und die Bregenzerwälderinnen können sich über ein Kompliment freuen, das er ihnen in einem Brief an König Max Joseph gemacht hat: „Bei diesen Gebirgs-Bewohnern ist wirklich die Schönheit der Mädchen (hier irrt Junkelmann, der „Menschen“ transkribiert), der Verstand und die Kraft der Weiber zu bewundern und ich begreife nun, daß rohe unausgebildete Menschen sich leicht von diesen zu aufrührerischen Schritten haben verleiten lassen.“ (S. 464) Carl Ernst von Gravenreuth, bayerischer Diplomat und Gegenspieler des „Krumbacher Weiberaufstandes“.