Augsburger Allgemeine: „Er war der Gründer Neu-Ulms: eine Biografie über Carl Ernst von Gravenreuth“ von Hans Krebs

20.5.2022 Augsburger Allgemeine von Hans Krebs

„Er war der Gründer Neu-Ulms: eine Biografie über Carl Ernst von Gravenreuth“

Die erste umfassende Biografie über den Diplomaten Carl Ernst von Gravenreuth (1771-1826) würdigt eine Karriere zwischen Napoleon und Montgelas. In Schloss Affing war er zu Hause.

Yorktown (Virginia) weit im Westen; Moskau weit im Osten; dazwischen die alte Hofmark Affing (heute Landkreis Aichach-Friedberg), die schon im 11. Jahrhundert nachweisbar und seit 1816 im Besitz der Freiherren von Gravenreuth ist. Deren Familiengeschichte schließt die beiden geografischen wie welthistorischen Eckpunkte ein: In Yorktown wurde 1781 die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika besiegelt – unter Mitwirkung der Brüder Wilhelm und Christian von Gravenreuth aufseiten französischer Fremdenregimenter; in Moskau endete 1812 schmählich Napoleons Russlandfeldzug, an dem zwei der acht Kinder Wilhelms im bayerischen Kontingent beteiligt waren – Franz und Casimir. Ihr ältester Bruder Carl Ernst hatte da schon seine Karriere als bayerischer Sondergesandter bei Napoleon beendet. Franz starb nach einer Fußamputation in den Armen seines Bruders Casimir, wie dieser in seinem Kriegstagebuch schmerzlich verzeichnet hat.

Carl Ernst von Gravenreuth war Kontaktmann des bayerischen Königs zu Napoleon

Dieses Tagebuch harrte im Archiv des Affinger Schlosses seiner Veröffentlichung, was 2019 durch die Autorin Suzane von Seckendorff in einer exemplarischen Edition gelang (Allitera Verlag). Da wurden die Gravenreuths wieder als Teilhaber einer unerhörten Zeitenwende publik. „Sattelzeit“ wird diese auch genannt, löste sie doch vor 1800 mit Revolution und Revolutionskriegen das „Ancien régime“ auf und begann nach 1800 mit einer radikalen Verschiebung des europäischen Machtgefüges, wobei 1806 auch das Heilige Römische Reich deutscher Nation endete. Ein neuer Kaiser betrat die Bühne, ein noch junger Mann mit kolossaler militärischer wie politischer Durchschlagskraft: Napoleon Bonaparte. In seiner Nähe zu bleiben als Kontaktmann des bayerischen Kurfürsten und späteren Königs Max Joseph kostete Carl Ernst von Gravenreuth enorme Kraft – allein durch die Geschwindigkeit der Eilmärsche Napoleons. Als Beispiel diene der 29. Oktober 1805: Am Nachmittag um drei Uhr verließ Gravenreuth München, um Napoleon nach Mühldorf am Inn zu folgen, wo er „mit ermüdeten Pferden“ eintraf und sich morgens um 4.30 Uhr zur Audienz meldete, die ihm um sechs Uhr gewährt wurde.

Derartige Details tragen zur Erhellung des Ganzen bei. Es ist ein Glücksfall, dass sich ein Autor gefunden hat, der in diesem Verständnis das Profil einer „im Geschichtsbild vernachlässigten Persönlichkeit“ und das Profil einer Welt im Umbruch vereint. Es geht also um Carl Ernst von Gravenreuth (1771-1826) und den 1940 in München geborenen Experimental-Archäologen, Militär- und Landeshistoriker Marcus Junkelmann. Seine Verbindung von Wissenschaft und Anschauung hat früh ein breiteres Publikum gewonnen. So sein Erfolgsbuch „Die Legionen des Augustus“ von 1986. Es war die Aufarbeitung eines Experiments zur 2000-Jahr-Feier Augsburgs, als er in der Ausrüstung der römischen Infanterie den Alpenübergang von Verona nach Augsburg praktizierte. Nachprüfbarkeit ist sein Gebot. Gerne weitet er Bildlegenden umfassend aus. Gerne liefert er Erklärstücke (etwa zum Stichwort „Rheinbund“). Gerne hebt er Personalien besonders heraus: Sei es Max Joseph als Pfalzgraf, Herzog, Kurfürst und König; sei es sein „Architekt des modernen Bayern“ Maximilian Graf von Montgelas, dessen Spannungsverhältnis zu Gravenreuth ein Hauptthema ist; sei es der exkommunizierte Priester Talleyrand, der als durchtriebener Außenminister das Kaisertum Napoleons mitgestaltete, von diesem später aber als „ein Stück Scheiße in Seidenstrümpfen“ herabgewürdigt wurde; seien es außer solchen Hauptakteuren auch Nebenfiguren wie Napoleons Stieftochter und Schwägerin Hortense de Beauharnais mit ihrem Sohn Louis-Napoleon (später Kaiser Napoleon III.) und beider Aufenthalt in Augsburg.

Viele solcher Einzelteile fügen sich zu einem vielfarbigen Mosaik – für Verlegerin Elisabeth Pustet „das schwierigste Buch, das ich je gemacht habe“. So zitiert sie Junkelmann in seiner Einleitung. Bei seiner Quellenforschung ist ihm auch das im Affinger Archiv aufgefundene „Mémoire“ Gravenreuths von 1824/25 zu Hilfe gekommen. Es wird erstmals, aus dem Französischen übersetzt, in voller Länge veröffentlicht. Französisch war wohl Carl Ernsts Primärsprache, ist er doch als Sohn einer französischen Mutter und eines in französischen Diensten stehenden Offiziers (aus uraltem fränkischen Adel) in Lothringen und Zweibrücken zweisprachig aufgewachsen. Seine Karriere verlief zweigeteilt. Zunächst in der Diplomatie mit dem historischen Höhepunkt 8. Dezember 1805 im mährischen Brünn. Dabei ging es nach Napoleons Sieg über Russen und Österreicher in Austerlitz um die territoriale Vergütung seiner süddeutschen Verbündeten. Gravenreuth setzte gegen den Willen Talleyrands durch, dass Bayern sich auf die in etwa bis heute bewahrte Westgrenze plus Vorarlberg ausdehnen konnte. Napoleon soll gestaunt haben: „Ce petit bougre m’a tenu tête“ (Dieser kleine Kerl hat mir die Stirn geboten). Und Montgelas’ Gemahlin erklärte den tatsächlich kleinen Gravenreuth gar zum „Retter Bayerns“. Napoleon wünschte diesen Diplomaten weiter in seinem Hauptquartier; doch Neider wie Talleyrand und Montgelas sahen ihn lieber in der Administration. So erhielt Gravenreuth am 8. Mai 1807 seine Abschiedsaudienz bei Napoleon und wurde Generalkommissär von Schwaben.

Das war nun nicht mehr die Weltbühne, sondern der mühsame Vollzug ihrer Hinterlassenschaft. So musste Bayern infolge der 1810 in Paris und Compiègne geschlossenen Verträge auch Gravenreuths Verwaltungszentrum Ulm an Württemberg abtreten, während das rechte Donau-Ufer bei Bayern blieb. Hier, so schlug Gravenreuth vor, sollte eine Neugründung mit dem Namen „Max Josephs Stadt“ erfolgen. Und so geschah es, allerdings mit dem schon 1813 amtlichen Namen Neu-Ulm. Als dessen Gründungsvater darf Gravenreuth sich rühmen. Auch wurde er 1820 Augsburgs erster Ehrenbürger und nach dem Augsburg-Besuch 1824 von Max I. Joseph und Caroline in den Grafenstand erhoben. Am 29. September 1826 starb er. Die Mausoleumskapelle des Affinger Friedhofs ist seine letzte Ruhestätte. Der heutige Erbe von Schloss Affing, Marian Freiherr von Gravenreuth, fühlt sich gegenüber seinem Vorfahren in der Schuld, dessen „Leben, Denken und Wirken in der Öffentlichkeit bekannt zu machen.“ Dank Marcus Junkelmann ist das eindrucksvoll gelungen.